Dieser Beitrag basiert auf einer Kasuistik aus dem New England Journal of Medicine1.
Schwer krank: Diarrhoe und Krämpfe
Die 15-Jährige hat fast stündlich schmerzhafte Krämpfe im Unterbauch und immer wieder blutigen Durchfall, sodass sie kaum schlafen kann. Trotz der Einnahme von Ibuprofen lassen die Schmerzen nicht nach. Als am dritten Tag der Krankheit zudem unblutiges, nicht-galliges Erbrechen auftritt, sucht die Teenagerin am folgenden Tag ihren Arzt auf.
In der Praxis präsentiert sich die Patientin müde und abgeschlagen und die Symptome bestehen weiterhin, unter Fieber leidet sie jedoch nicht und auch die körperliche Untersuchung ist unauffällig. Alle Tests einer Stuhlprobe auf Salmonellen, Shigellen, Campylobacter, Rotaviren und Clostridium difficile fallen negativ aus. Der Arzt verordnet Loperamid und Paracetamol, sowie eine Elektrolytlösung.
In den folgenden drei Tagen lässt die blutige Diarrhö nach, die Patientin muss sich jedoch weiter mehrmals täglich übergeben und hat Krämpfe im Epigastrium. Sie kommt erneut kränklich und bleich in die Arztpraxis, wobei jedoch keine auffälligen Befunde festgestellt werden können (Körpertemperatur 36,5°C). Der Arzt empfiehlt ihr die Einnahme von Ranitidin und einem Probiotikum.
Da auch dies keine Besserung bringt, wird die junge Frau von ihrer Mutter am nächsten Tag zur weiteren Untersuchung in eine Klinik gebracht.
Eingrenzung der Krankheit: Hämolytisch-urämisches Syndrom
Die behandelnden Ärzte grenzen die Erkrankung weiter ein und kommen schließlich zu dem Ergebnis, dass die 15-Jährige an einem hämolytisch-urämischen Syndrom leidet.

Vier verschiedene Krankheiten kommen in Frage
Nach den Untersuchungen vermuten die Ärzte eine intrarenale Ursache, die für das akute Nierenversagen, die hämolytische Anämie, die Thrombozytopenie und die blutige Diarrhö verantwortlich ist. Bei vier Krankheiten können all diese Prozesse auftreten:
- Disseminierte intravasala Koagulopathie (DIC),
- Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP),
- Systemische Vaskulitis,
- Hämolytisch-urämisches Syndrom.
Am naheliegendsten ist die Diagnose eines hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS), welches durch die Triade der genannten Symptome charakterisiert ist. Bei einer DIC liegt meist eine schwerwiegende Erkrankung (Sepsis, Verletzungen, Krebs) zugrunde, welche bei der Jugendlichen nicht vorhanden ist. Eine TTP ist aufgrund des Fehlens der namensgebende Purpura und neurologischer Symptome unwahrscheinlich. Der rasche Krankheitsbeginn und -verlauf sprechen gegen eine systemische Vaskulitis.1
Vom Hausarzt weiter in die Notaufnahme
In der Notaufnahme der Klinik berichtet das blasse Mädchen über eine reduzierte Harnausscheidung, die Vitalparameter sind jedoch normal. Bei der Ultraschalluntersuchung wird eine große Menge Gallengries in der Gallenblase festgestellt, aber keine Verdickung der Gallenblasenwand. Beide Nieren sind unauffällig, ebenso die Harnwege, die Harnblase ist leicht ausgedehnt. Außerdem stellen die Ärzte einen leichten Aszites im unteren Abdomen und der Morison-Grube fest. Sie verabreichen eine intravenöse Infusion Kochsalzlösung (2 Liter) und überweisen das Mädchen nach Beratung mit einem Kinder-Nephrologen in eine spezialisierte pädiatrische Klinik.
Bei der Aufnahme sind die Vitalparameter ohne Befund:
- Körpertemperatur: 36,9°C
- Puls: 71/Minute
- Blutdruck: 124/75 mmHg
- Atemfrequenz: 18/Minute
- Sauerstoffsättigung: 100%
Das Abdomen ist weich, mit normalen Geräuschen und keinen Anzeichen von Aufblähungen oder einer Hepatosplenomegalie. Es sind keine Ödeme am Körper vorhanden, ein EKG zeigt keine Besonderheiten. Eine Reihe von Laborparametern wird erhoben, mit mehreren kritischen Ergebnissen (Abb. 1&2).
Trotz einer intravenösen Gabe von einem Liter Kochsalzlösung, scheidet die Patientin nur 2 ml Urin aus. Bei einer Urinanalyse ist der Harn trüb und bernsteinfarben und weist Blut, Albumin und Leukozyten auf, der pH liegt bei 5,0. Ein Schwangerschaftstest ist negativ.
Die 15-Jährige hat eine Krankheitsgeschichte von Angsterkrankungen und einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivität-Störung (ADHS) und nimmt daher Citalopram und Methylphenidat ein. In den vergangenen sieben Monaten hatte sie drei Mal wegen Dysurie ihren Arzt aufgesucht. Sie ist sexuell nicht aktiv, raucht nicht und trinkt keinen Alkohol. Kurze Zeit vor Krankheitsbeginn hat sie eine Städtereise unternommen und dabei Essen von Straßenverkäufern gekauft.
In ihrer Familie hat es bereits Fälle eines Antiphospholipid-Syndroms und von Hypothyreose gegeben, jedoch sind keine Nierenerkrankungen oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen bekannt.
Ursache: Lebensmittelinfektion durch Essen vom Straßenstand
In den meisten Fällen ist die Ursache für ein HUS eine bakterielle Infektion, häufig mit enterohämorrhagischen E. coli (EHEC), seltener durch Streptococcus pneumoniae. Die Erreger können durch kontaminierte Lebensmittel, Tierkontakt oder direkt von Mensch zu Mensch übertragen werden.
Das Mädchen hatte kurz vor Beginn der Krankheit Essen an einem Straßenstand gekauft, welches vermutlich zur Infektion führte, in deren Folge das HUS als schwere Komplikation auftrat. Seltener sind atypische Formen des HUS, bei denen es zu Störungen des Komplementsystems kommt, die sporadisch auftreten oder eine genetische Ursache haben.
In Deutschland ist das HUS die häufigste Ursache für ein akutes Nierenversagen im Kindes- und Jugendalter, mit einer Inzidenz von 0,7-1/100.000 bei unter 15-Jährigen. Etwa zwei Drittel der Betroffenen werden dialysepflichtig, weitere Spätfolgen sind Hypertonie, Proteinurie und chronische Niereninsuffizienz.2
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Genmutation: Heterozygote Deletion im Gen CFHR3
Eine Nierenbiopsie zeigt eine thrombotische Mikroangiopathie und eine tubuläre Nekrose. Außerdem führen die Ärzte einen AH50-Assay durch, welcher die Aktivität des Komplementsystems nachweist und bei einem atypischen HUS meist niedrig ist. In der Tat liegt der Wert bei der Patientin bei 10 % (Referenzbereich >45 %).
Da eine Vielzahl von Genvarianten bekannt ist, die beim HUS eine Rolle spielen und das Komplementsystem betreffen, wird eine Sequenzierung durchgeführt. Dabei stellen die Genetiker eine heterozygote Deletion im Gen CFHR3 fest. Diese Mutation führt zu einer verminderten Expression des Complement factor H-related Protein 3. Zur Auswirkung dieser Mutation ist bislang wenig bekannt.
Medikamente auch sechs Monate nach Erkrankung erforderlich
Eine Behandlung mit Eculizumab, einem humanisierten monoklonalen Antikörper gegen die Komplement-Komponente C5, wird begonnen und aufgrund des erhöhten Risikos einer Meningokokkeninfektion eine Vakzinierung durchgeführt. Auch sechs Monate nach der Krankheit erhält sie zweiwöchentlich Eculizumab-Infusionen, da ansonsten ein hohes Risiko einer terminalen Niereninsuffizienz besteht.
Aufgrund der Urämie und einer Hypertonie veranlassen die Ärzte eine Hämodialyse. Die Nierenfunktionsparameter verbessern sich nach einer Woche und die Dialyse kann nach sechs Anwendungen beendet werden. Jedoch braucht es mehr als sechs Wochen bis die Laborergebnisse bezüglich der Hämolyse normal sind.
Wie wären Sie in diesem Fall vorgegangen?
Im Ärztenetzwerk coliquio gibt es regelmäßig spannende Kasuistiken. Und das Beste dabei: Sie können selbst einen Tipp zur richtigen Diagnose abgeben. Anschließend erfahren Sie, wie andere Ärztinnen und Ärzte in diesem Fall vorgegangen wären.
1. Kao AY et al. A 15-Year-Old Girl with Acute Kidney Injury. N Engl J Med 2018; 378(25): 2421-2429.
2. Brandis M et al. Das hämolytisch-urämische Syndrom. Dtsch Ärztebl 2002; 99: A-196-203.
Bildquelle (Symbolbild): McCoy N et al. Hemolytic uremic syndrome with simultaneous Shiga toxin producing Escherichia coli and complement abnormalities. BMC Pediatr 2014; 14: 278.
Bildquelle: © getty images/Eva-Katalin
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